Seit dem 19. Jahrhundert zog es schöpferisch tätige Menschen nach Nordafrika. Sie verfielen den Orientklischees, die sie mitbegründeten, schufen bedeutende Werke und lebten ihre sexuellen Fantasien aus.
Der Essay ist am 23. November 2025 erschienen auf queer.de
Der nordafrikanische Sehnsuchtsraum schlechthin war Marokko. Neben Malern und Musikern waren es vor allem Literaten, die dem Zauber des Landes verfielen. Darüber hinaus fanden sie, besonders in Tanger und Marrakesch, eine Infrastruktur für sexuelle Aktivitäten, die anderswo strafverfolgt wurden.
Zunächst waren es Personen, die berufliche Verpflichtungen ins Land führten. Von ihnen stammen die ersten nicht-arabischen Marokko-Texte seit der Antike. Samuel Pepys war beteiligt an der Auflösung des britischen Stützpunkts Tanger, Eugène Delacroix und Pierre Loti begleiteten diplomatische Missionen, Alexandre Dumas reiste im Regierungsauftrag, Mark Twain als Reporter auf einem Kreuzfahrtschiff, Edgar Wallace als Sonderkorrespondent, Friedrich Glauser war in der Fremdenlegion, Jean Genet und Antoine de Saint-Exupéry versahen Militärdienst, letzterer war später auch Linienpilot und Flugplatzchef in Tarfaya, Ian Fleming führten geheimdienstliche Aktivitäten nach Tanger, Roland Barthes erfüllte eine Lehrverpflichtung in Rabat. In diesen Fällen wurde Marokko als Ziel nicht eigentlich gewählt, sondern ergab sich durch die Umstände der Arbeit.
Warum Marokko?
Erst seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unternehmen Romanciers und Poetinnen, Maler und Musiker Reisen, deren vorrangiger Zweck die Suche nach Ideen, fremdem Lokalkolorit und neuen Ausdrucksmöglichkeiten war. Bei solcher Motivation müssen die Gründe für die Wahl im Lande selbst liegen. Sie lassen sich in einigen Punkten zusammenfassen.
Nähe. Marokko war fern und doch nah, kulturell fern, aber geografisch nicht zu fern, erreichbar zu Schiff von jeder Hafenstadt aus. Seit 1922 gab es eine tägliche Flugverbindung Toulouse-Tanger der Linie Latécoère. Anfang der 1920er Jahre fuhr die Eisenbahn in zwölf Stunden von Paris nach Marseille. Das Schiff von Marseille, mit Zwischenaufenthalt in Tanger, benötigte bis Casablanca drei Tage und drei Nächte. Es bestand auch die Möglichkeit, von Paris über Madrid bis Algeciras oder Gibraltar die Eisenbahn zu wählen und dort das Schiff nach Tanger oder Casablanca zu besteigen. Algeciras-Tanger waren drei Stunden zu Schiff, Gibraltar-Casablanca zehn Stunden. Auch von anderen europäischen Hafenstädten und von New York aus wurden Casablanca, Tanger und Gibraltar im Linienverkehr angelaufen.
Klima. In Reiseberichten, Tagebüchern, Briefen und Romanen wird das Klima Marokkos besungen, Tanger wurde zur Sommer-Destination, Marrakesch wegen der warmen und sonnigen Winter aufgesucht.
Flair. Marokko verfügt über alle Ingredienzien, die ein erfolgreiches Tourismusland seit jeher benötigt – abwechslungsreiche Landschaften, von Stränden über Gebirge zu Wüsten und Oasen, Sonne, Sehenswürdigkeiten, und eine touristische Infrastruktur, die unter französischer Herrschaft laufend verbessert wurde. Fes und Marrakesch vermögen heute noch orientalistischen Traumbildern zu genügen, Tanger tat dies mindestens bis zur Unabhängigkeit. Es war exotisch, idyllisch, malerisch, klein und doch international, eine Traumstadt, wie Paul Bowles sagte, mit allem Traumzubehör .
Kosten. Vor allem in Tanger, das für die Literaten die größte Attraktivität besaß, war alles zu haben, und es war alles billig zu haben. Wer länger verweilte und so gleichsam die Ausgaben auf lange Zeit verteilte, konnte in Marokko weit preiswerter leben als anderswo in Europa und Amerika. Dies gilt heute noch, bei Verzicht auf Alkohol und Viel-Sterne-Hotels.
Freiheit. Vor allem in Tanger konnte man sich Freiheiten erlauben wie sonst nicht auf der Welt. Die internationale Gesellschaft der Stadt war im Lebensstil exzentrisch und exzessiv bis verrückt und daher großzügig und tolerant, was individuelle Lebensformen betrifft. Der weitgereiste William Burroughs, Urvater der Beat-Literaten, der sich keinerlei Zwängen unterwerfen wollte, von der Drogensucht einmal abgesehen, betont dies immer wieder in seinen Briefen an Allen Ginsberg.
Drogen. Jede Art von Drogen war in Tanger verfügbar und preiswert zu kaufen. Cannabis war und ist überall erhältlich und beschert bis heute den Armen Vergessen. Vor allem für die Beat-Generation waren die Drogen der Magnet, ohne Drogen würde Burroughs’ Werk nicht existieren. Auch so mancher Text von Paul Bowles wurde unter Haschischeinfluss aufs Papier halluziniert.
Homosexualität. Eine ungewöhnlich große Anzahl künstlerisch tätiger Personen, die Marokko bereisten oder bewohnten, waren – die meisten erklärt – homosexuell, so Hans Christian Andersen, André Gide, Henry de Montherlant, Paul Bowles, Charles-Henri Ford, Tennessee Williams, Truman Capote, Gore Vidal, Brion Gysin, Willam S. Burroughs, Allen Ginsberg, Alan Ansen, Christopher Isherwood, Alfred Chester, Jean Genet, Juan Goytisolo, Hubert Fichte, Roland Barthes, ebenso die Musiker Camille Saint-Saëns, Aaron Copland, die Maler Robert Rauschenberg, Francis Bacon, Max Peiffer-Watenphul, der Fotograf Cecil Beaton. Andere hatten zumindest homophile Neigungen wie etwa Hugo von Hofmannsthal.
Warum gerade Marokko zum Anziehungspunkt für homosexuelle Kunstschaffende wurde, ist nicht leicht nachvollziehbar und hat vielfältige Ursachen.
Seit dem 19. Jahrhundert, als der französische Einfluss größer wurde, reisten homosexuelle Künstler auch nach Algerien und Tunesien, etwa Camille Saint-Saëns, André Gide, Henry de Montherlant. Die politische Entwicklung verlief in Algerien gänzlich anders als in Marokko. Algerien stand unter osmanischer Herrschaft, Marokko nicht. Algerien war Kolonie und nicht Protektorat, der Ablösungsprozess von Frankreich verlief noch schwieriger und noch weit blutiger, dem Algerien-Krieg folgten Kommunismus, dann Islamismus, Bürgerkrieg, Militärregierung. Eine solche politische Geschichte ist einer touristischen Entwicklung nicht förderlich und zeitweise ausgesprochen hinderlich.
Auch in Tunesien gibt es wie in Marokko die homosexuelle Variante des Sextourismus bis heute. Aber im Vergleich mit Tunesien ist Marokko vielfältiger, abwechslungsreicher, bunter, in touristischer Hinsicht ergiebiger und wohl auch in künstlerischer. Darin mögen Gründe liegen, die Marokko gegenüber Tunesien begünstigen, auch für Homosexuelle. Zudem hatte Tunesien kein Tanger mit völkerrechtlichem Sonderstatut.
In der liberalen internationalen Gemeinschaft Tangers war Homosexualität kein Tabubruch zu einer Zeit, als sie in Europa und Amerika noch strafverfolgt wurde. Die selbstverständliche und wohl auch gleichgültige Haltung mag auch daran liegen, dass der Ehrenwerte David Herbert, der in Tanger ein halbes Jahrhundert lang gesellschaftlich den Ton angab, selbst homosexuell war, der als zweiter nicht erbberechtigter Sohn eines britischen Adeligen möglichweise aus eben diesem Grund Tanger als Wohnsitz gewählt hatte. Die zweite Tonangebende, die des Jetset, war Barbara Hutton; als Erbin der amerikanischen Woolworth-Kaufhauskette galt sie viele Jahre lang als reichste Frau der Welt. Herbert und Hutton waren befreundet – und sie brach mit ihren sieben Ehemännern und Kurz- und Langzeitliebhabern ebenfalls alle bürgerlichen gesellschaftlichen Normen.
Jedenfalls lockte die sexuelle Verfügbarkeit junger Männer Homosexuelle nach Marokko. Jedoch ist dies eine Prostitution, die Dienstleistung erfolgt gegen Bezahlung, und ihre Ursache liegt in der wirtschaftlichen Notlage und zu Tangers Glanzzeit auch im Hunger der Halbwüchsigen, sie ist ein Ausdruck von Machtbeziehungen, von sozio-ökonomischer Ungleichheit zwischen den Partnern.
Sexarbeit durch Minderjährige
Es besteht kein Zweifel, dass viele der jungen Marokkaner, die sexuelle Dienste anboten, minderjährig waren. „Die weibliche Prostitution ist weitgehend auf lizenzierte Häuser beschränkt. Männliche Prostituierte dagegen sind überall. Sie nehmen an, dass alle Besucher homosexuell sind, und sprechen einen offen auf der Straße an. Mich haben Jungen angesprochen, die nicht älter als zwölf sein konnten“, schrieb William Burroughs in Interzone (1989) . Das Unrechtsbewusstsein für Missbrauch von Kindern war wenig entwickelt, wurde übergangen oder überdeckt durch ein grundsätzliches Überlegenheitsgefühl gegenüber den Bewohnern des bereisten Landes. Mancher mag geglaubt haben, sich mit Geld von Fehlverhalten freikaufen zu können. „Tanger ist seit langem dieser Ort, wo man sein Schuldgefühl zu verlieren hofft“, sagt Tahar Ben Jelloun in Harrouda (1973) .
Auch andere marokkanische Autoren wie Driss ben Hamed Charhadi, Mohammed Mrabet, Mohamed Choukri beleuchten die Schattenseiten des schönen Scheins, Armut und Elend, Landflucht und Slums, Kinderarbeit und Sexarbeit. Das nackte Brot (1973) ist die außergewöhnliche Geschichte von Mohammed Choukris Kindheit und Jugend in den Straßen von Tetouan und Tanger, wo er als Bettler, Dieb, Prostituierter für Männer und Träger für Schmuggler arbeitete, unglückliche, miserable, verzweifelte, hungrige Jahre, die man sich trauriger nicht vorstellen kann. “Betteln ist das Geschäft der Kinder und der gebrechlichen Alten. Für einen jungen Burschen, der fähig ist zu stehlen, wenn er keine Arbeit findet, ist es schmachvoll zu betteln” .
Es kam vor, dass sich zwischen den Schriftstellern und ihren marokkanischen Liebhabern im Laufe der Zeit Freundschaften entwickelten. Kiki ernährte Burroughs, als er kein Geld hatte, weil er bereits alle Reserven durch Drogenkonsum verbraucht hatte. Aber Kiki wusste aus Erfahrung, dass der nächste Scheck der Eltern Burroughs’ irgendwann eintreffen wird. Ähnlich war das Verhältnis zwischen Alfred Chester und seinem Freund . In manchen Fällen könnte man schließen, es habe sich zum finanziellen Interesse eine Freundschaft gesellt, das Angenehme wurde mit dem Nützlichen verbunden.
Auch bei Bowles und Genet wurden aus den Liebschaften Freundschaften, die jahrelang anhielten, beide förderten ihre Freunde, Bowles auch in künstlerischer Hinsicht. Aber bei Bowles kam es mit allen schließlich zum Bruch. Genet wollte mehreren seiner Freunde, nicht nur den marokkanischen, zu einer Karriere verhelfen und ist immer gescheitert. Es besteht kein Zweifel, dass der Freund von Genet, el-Qatrani, wenige Monate nach dessen Tod an Kummer starb, indem er sein Auto gegen einen Baum fuhr .
Aber es war von Seiten der marokkanischen Liebhaber der Künstler keine ausschließliche Homosexualität. Sie waren entweder verheiratet oder gerade dabei, sich zu verheiraten. Von der bevorstehenden Eheschließung Mohammed Mrabets wusste anscheinend die ganze Stadt, nur Bowles nicht. Er war der Letzte, der es erfuhr, so überliefert es John Hopkins in seinem Tagebuch , und er war meist gut informiert.
Bei den wenigen Marokko bereisenden weiblichen Schriftstellern findet sich ebenfalls ein hoher Anteil Homo- und Bisexueller. Da ist Gertrude Stein, die einmal mit ihrem Buder und auch mit ihrer Lebensgefährtin Alice B. Toklas nach Marokko reiste, Colette, die mit (späterem) Ehemann in Marokko war, Djuna Barnes, Anaïs Nin, Simone de Beauvoir, unterwegs mit Sartre, und Jane Bowles. Sie hatte marokkanische Freundinnen und mit Cherifa einen lebenslangen Kampf. Wie Truman Capote in Erhörte Gebete (1987) überliefert, war ihr ganz klar, dass die Interessen von Cherifa, einer „strapaziösen Persönlichkeit“, finanzieller Natur sind, sie befürchtete sogar, von ihr vergiftet zu werden .
Isabelle Eberhardt, die schon als Jugendliche in Genf in Männerkleidern herumlief und Nordafrika als Mann verkleidet und mit männlichem Pseudonym bereiste, pflegte einen Geschlechterrollenwechsel, der ihren Biografen Rätsel aufgibt.
Patricia Highsmith und Marguerite Yourcenar waren Kurzbesucherinnen. Yourcenar, deren Werk von homosexuellen Themen geprägt ist, unternahm in hohem Alter, wenige Monate vor ihrem Tod 1987 noch eine Marokko-Reise, die sie nach Tanger und Fes führte. Yourcenar sagte von sich, sie wäre gern die Geliebte von Männern gewesen, die Männer lieben. Nach dem Tod ihrer Lebensgefährtin unternahm sie ihre Reisen in Begleitung eines homosexuellen jungen Mannes. Auch Marguerite Duras, heterosexuell, hatte in ihren späten Jahren einen homosexuellen jungen Lebensgefährten, und einer ihrer Biografen, Vircondelet , befand, dass sie Männer in ihrer Androgynität liebte.
Zweifelsohne haben auch heterosexuelle Künstlerinnen Marokko bereist. Aber es ist schon erstaunlich, dass etliche Schriftstellerinnen von Weltruf, in deren Werk Marokko zumindest am Rande Eingang fand, homo- oder bisexuell waren oder zumindest eine Neigung erkennen lassen.
Die Kunstschaffenden des 19. und 20. Jahrhunderts waren die Vorhut des heutigen Massentourismus, ihre Werke in Bild, Ton und Schrift waren die Werbung und die Basis für weitere Entwicklungen. In den 1990er Jahren begannen Investoren in großem Stil zerfallende Häuser zu kaufen und zu renovieren. Inzwischen sind in manchen Altstädten, in Marrakesch, Essaouira, Rabat und anderswo, ganze Straßenzüge in ausländischem Besitz oder für touristische Bedürfnisse aufpoliert. Heute noch ist das Land ein Magnet für kreativ Tätige, die Szene hat sich diversifiziert, sowohl geographisch wie auch genremäßig. Filme- und Modemacherinnen, Designer und Keramikerinnen, Schnickschnackbastlerinnen und Gartengestalter ließen sich nieder, in Teilzeit oder in Vollzeit. Hand in Hand mit der nationalen Fremdenverkehrswerbung und den internationalen Tourismusindustrien weben sie weiter an den bekannten stereotypen Marokkobildern und feiern exotistische Zugangsweisen. So schreitet die Orientalisierung Marokkos voran … aber das ist ein anderes Kapitel …