Das Unsagbare

Der Text ist erschienen in: Niederle, Helmuth (Hrsg.), Zwischenrufe. 100 Jahre Österreichischer PEN-Club. Wien: Korrektur Verlag 2024, S. 163-172

Links gegen Liberal ist derzeit das spannendste Match in den Feuilletons und Wochenendausgaben der internationalen Blätter. Vordergründig geistert die Debatte um Redefreiheit und Sprechverbote, um Identitätspolitik und Intoleranz, um Fehlverhalten und   Verstrickungen. Doch allzu oft sind die Wortgefechte nicht mehr als Wortklaubereien.

Meinungsfreiheit versus Meinungskontrolle: So ein Disput brandet immer dann auf, wenn es um Zuschreibungen und Zugehörigkeiten geht, insbesondere um Herkunft, Religion und Geschlecht. Vielleicht ist die Diskussion aber nur ein Ablenkungsmanöver. Tatsächlich verdeckt der Streit um Wörter samt den von beiden Seiten in die Schlacht geworfenen Kampflosungen, ein viel größeres Dilemma: Die historische Schuld der westlichen Länder an Ausbeutung und Unterdrückung von Minderheiten jeden Ortes und jeder Zeit.

Es tobt ein Machtkampf um die Hegemonie zwischen Marktliberalismus und Sozialstaat, zwischen Globalisierung und Nationalismus, und letztlich auch zwischen Patriarchat und Feminismus. Privilegiert gegen Marginalisiert: Diejenigen, die immer schon oben waren, verteidigen mit Zähnen und Klauen die weiße, westliche, männliche, heterosexuelle Dominanz. Nicht selten hüllen sie sich zur Tarnung in ein scheinbares Mäntelchen der Liberalität, auch das erhöht die Gewinne, denn mittels der Waffe der Identitätspolitik werden Menschen instrumentalisiert, indem man ihnen schöne neue Wörter schenkt, um an den Machtstrukturen nichts ändern zu müssen.

Sprachregelungen

Zunächst einmal ist festzuhalten: Sitte und Moral sind Töchter der Zeit, und sie bestimmen, was gerade sagbar ist und was nicht. So ein Kanon der Tabuwörter muss natürlich verhandelbar sein, aber auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse und nicht auf dem bequemen Polster von lieb gewordenen Ideologien. Immer gibt es Leute, die die Zeit anhalten wollen, die dem Alten gegenüber dem Neuen den Vorzug einräumen, die nicht akzeptieren wollen, dass nunmehr rassistisch ist, was damals als normal galt, weil es eben auch damals schon rassistisch war. Bloß hat es sich damals halt niemand eingestehen wollen oder können – prägnantestes Beispiel, das N-Wort.

Die stereotypen Phrasen der einen – „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“ und „Man darf ja nichts mehr sagen“ – werden begleitet von einem Gepolter gegen Zensur und Sprachpolizei, gegen Denk- und Sprechverbote, gegen Gesinnungs- und Tugendterror. Das scheinbar liberale Argumentieren ist aber nur ein Deckmäntelchen. Unter seinem Schutz werden rassistische, islamfeindliche, frauenfeindliche, zuwanderungsfeindliche, homophobe oder xenophobe Positionen nicht nur in die Diskurse, auch in die Gesellschaft eingeschleust.

Die Methode ist Wiederholung: Ausgrenzende Aussagen gegen bestimmte soziale Gruppen werden auf allen Kanälen immer wieder in die Debatte geworfen. So soll das bisher Unsagbare sagbar werden, so soll es normal werden, so soll es sich im Alltagssprachgebrauch verankern. Ein Beispiel ist das Argumentieren gegen Flüchtlinge („Wir können ja nicht alle aufnehmen.“), die pauschal als „Wirtschaftsflüchtlinge“ etikettiert werden – so als ob Armut, Hunger und Perspektivlosigkeit keine ehrbaren Fluchtgründe wären. Das Ziel solchen Agitierens ist, bisher privilegierte Positionen zu zementieren und jene, die diese Vormachtstellung gefährden, in der gleichen aussichtslosen Lage zu halten, in der sie sich seit Jahrhunderten befinden. Ergebnisse solcher Strategien zeichnen sich ab. Ablehnende Einstellungen gegenüber Minderheiten sind nicht mehr auf die rechten äußeren Ränder beschränkt, sondern längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

Die andere Seite, die auch ein Sprachrohr beansprucht, um ihren unterprivilegierten Status zu thematisieren und endlich zu überwinden, die (Sprach)gerechtigkeit einfordert, wird unterstützt von linken Positionen: Gemeinsam bestehen sie auf politischer Korrektheit, Respekt und Anstand gegenüber Andersdenkenden und Andersglaubenden und Teilhabe aller an gesellschaftlichen Prozessen. Die Kampfbegriffe auf dieser Seite: koloniale Gewalt, Sklavenhandel, Kulturimperialismus, postkoloniale Machtkritik. Teile einer woken Linken befleißigen sich dabei einer merkwürdigen Orthodoxie, die Züge des Sektiererischen aufweist und deren Akzentuierung selbst wieder in Richtung Faschismus weist. Definitiv wird übers Ziel hinausgeschossen – die schwarze Liste ist anscheinend jetzt auch tabu, vielleicht auch bald die gelbe Karte, und weiße Schachfiguren sowieso, die immer den ersten Zug machen.

Die Debatte an sich ist im Kern schon debattenfeindlich, denn beide Seiten beanspruchen die Deutungshoheit und gestehen der anderen nicht die Meinungsfreiheit zu, die sie selbst für ihre Position als selbstverständlich voraussetzen. In einer gesunden Streitkultur kann Widerrede polemisch und sprachlich geschliffen sein, auch ironisch oder satirisch bis witzig, aber persönlich darf sie nicht werden, nicht beleidigend und hasstriefend. Aber die Fronten zwischen den Lagern sind verhärtet, die Diskutanten wirken zunehmend verbittert. Durch Argumente überzeugen zu wollen scheint aus der Mode geraten zu sein. Wer sich mit einem Widerspruch konfrontiert sieht, sieht sein Recht auf Freiheit der Rede streitig gemacht und gibt sich beleidigt.

Und während die Linken und die Liberalen einander wegen Wörtern befetzen, frohlocken die Rechten und gewinnen Wahlen.

Gewalt durch Worte

Sprache kann Tat sein, etwa bei Verleumdungen. Jemanden (fälschlich) eines Verbrechens zu beschuldigen ist selbst schon eine Tat, die strafbar ist. Holocaustleugnung ist keine Meinung, sondern Wiederbetätigung, und als sprachliche Äußerung nach dem Gesetz eine rechtswidrige Handlung. Der Zusammenhang zwischen Wort und Handlung verdeutlicht sich im Begriff „Rufmord“; ein solcher kann in den online Medien rasche Verbreitung erfahren, befeuert auch von Interessengruppen.

Gegen Politiker wird in digitalen Netzwerken Stimmung gemacht, etwa sie seien schwul, so lange, bis es die Spatzen auch in den Provinznestern von den Dächern pfeifen, in dem Wissen, dass sie dann für Homophobe nicht wählbar sind. Das klappt auch mit Vorwürfen sexueller Übergriffe gegen Frauen oder Kinder. So einfach kann man Konkurrenten mit Worten aus dem Rennen katapultieren. Dementis und Klagen der Beschuldigten führen zu einem Medienrummel, aber kaum zur Widerherstellung der Reputation, denn selbst nach einem Freispruch bleibt am Ruf ein Makel haften.

Wo liegen die Grenzen?

In den liberalen Epochen der 1970er und 1980er Jahre hat der Hinweis genügt, dass die Grenzen der Freiheit dort liegen, wo die Freiheit des anderen beginnt. Das ist von Mal zu Mal und von Person zu Person verhandelbar. Das war in jenen Zeiten, als Digitalisierung und Globalisierung noch nicht die Welt verkomplizierten und als nicht jede Entgleisung und jede unglückliche Formulierung und jede Beschimpfung gleich um den Erdball getwittert wurde.

Heutzutage, wo digitale Netzwerke jedermann und jederfrau die Freiheit geben, ihre jeweiligen Aggressionen jederzeit öffentlich und anonym loszuwerden und in die Welt hinaus zu trommeln, müssen schwerere Geschütze aufgefahren werden.

Einmal das Strafgesetzbuch. Was dort verboten ist, ist verboten. Dann die Verfassung eines Landes, Menschenrechte, Verträge, die international unterzeichnet wurden – daran muss man sich halten. Auch wissenschaftliche Erkenntnisse sind als verbindlich anzusehen – solange sie nicht widerlegt sind (Karl Popper). Wer dagegen verstößt, den darf jedermann und jedefrau darauf aufmerksam machen, allerdings nicht mit Shitstorm, Hasspostings und Morddrohungen, sondern wieder nur im Rahmen geltender Gesetze und Verträge. Hilfe bieten auch große Religionen, die Goldene Regel der Bergpredigt (Mt 7,12) etwa, die zum Sprichwort wurde: Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu (ähnlich bei Tob 4,15).

In einer liberalen Demokratie westlichen Zuschnitts muss die Verhandelbarkeit gelten, was sagbar ist, muss verhandelbar sein. Wenn die Linken jeder Schattierung nicht mit den Liberalen jeder Schattierung paktieren – und bei den Schattierungen könnte es Überschneidungen geben – dann tragen die Rechten den Sieg davon.

Identität und Universalismus

In jüngerer Zeit erscheinen die ausufernden Identitätsdebatten zunehmend ausweglos. Das Gerangel um Identität und Zugehörigkeiten erreicht inzwischen hauptsächlich, dass die Welt sich in immer mehr und immer kleinere Gruppen aufspaltet, die sich noch bezüglich ihrer Interessen, Meinungen und Empfindlichkeiten verständigen können – Veganer gegen Vegetarier, Transfrauen gegen Terfs, Holocaust- und Kolonialismustraumatisierte in Opferkonkurrenz.

Eine Lösung scheint zu sein, die Würde und Autonomie des Menschen wieder in den Vordergrund zu rücken. Zuletzt unternimmt der als scharfsinniger Denker gefeierte deutsch-israelische Philosoph Omri Boehm („Radikalter Universalismus“, 2022), einen Rückgriff auf den Universalismus Kants, der ein Handeln nach moralischen Prinzipien anstrebt, die immer gültig seien, unabhängig von Zeit und Ort, unabhängig von politischen, gesellschaftlichen, religiösen Gegebenheiten, von individuellen Wünschen und äußeren Umständen. Auf dem Kantschen normativen Universalismus basieren die Menschenrechte.

Allerdings kann man ihm vorwerfen, dass er auch nur das Konstrukt eines weißen alten Mannes sei, dass sein übergeschichtlicher Ehrgeiz die kulturellen Unterschiede in Ethik und Moral nicht bedenke, dass verschiedene Gesellschaften verschiedenen, einander widersprechenden Normen und Werten verpflichtet sind, die nicht nach einem universellen zeitlos gültigen Prinzip betrachtet werden können. Was den einen eine religiöse Pflicht – etwa die Bedeckung des weiblichen Körpers – ist den anderen die Einschränkung individueller Freiheit.

Doch ein bisschen weniger partikularistisches Denken und stures Bestehen auf identitären Bedürfnissen und ein wenig mehr inklusiver Universalismus könnten dem sozialen Frieden nicht schaden. Denn ein Liberalismus, der nicht dem Humanismus verpflichtet ist und der nicht auf einer festen moralischen Basis ruht, begünstigt die Starken und vergisst, die Schwachen vor ihnen zu schützen, arbeitet daher den Mächtigen zu und öffnet Tür und Tor für Ausbeutung und Unterdrückung.