Gibt es ein Recht auf Migration?

„Barcelona oder sterben“, so lautet die Devise auswanderungswilliger junger Leute in Senegal. Die Positionen Westafrikas und Europas zu Migration könnten unterschiedlicher nicht sein. Die einen fordern ein Recht darauf, die anderen wollen sie abschaffen. Was die einen als Verheißung sehen, ist für die anderen eine Bedrohung.

Der Essay ist leicht geändert in Die Presse, vom 26. 4. 2025, Spectrum S. 3 erschienen.

Seit Europa in seinem Süden hohe Mauern errichtet hat, erfolgt irreguläre Migration vermehrt über den Atlantik. Von den Küsten Mauretaniens und Senegals legen die bemalten Holzboote ab, ausgestattet mit Außenbordmotor und GPS-System, tausend bis zweitausend Kilometer über das offene Meer zu den Kanarischen Inseln.

Migration und irreguläre Migration sind nicht nur in europäischen, sondern auch in afrikanischen Ländern das brisante Thema, das öffentliche Diskurse dominiert und die Wogen hochgehen lässt. Als daher das Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten (BMEIA) im Rahmen seines Programmschwerpunktes „Dialog der Kulturen“ in der Botschaft in Dakar, zuständig für neun Länder in Westafrika, eine Dialogue Residency einrichtete, war das Thema rasch gefunden.

Ziel dieser Initiative ist es, durch den Austausch mit zivilgesellschaftlichen Akteuren interkulturelles Verständnis zu fördern, Kompetenzen für den Umgang mit Vielfalt zu stärken und ein friedliches Zusammenleben zwischen Menschen unterschiedlichster Zugehörigkeiten, Sprachen und Religionen zu sichern. Lokaler Kooperationspartner war das Timbuktu Institute, African Center for Peace Studies. Als Ethnologin und Sozialanthropologin wurde ich für einen Monat nach Dakar eingeladen. Gemeinsam mit der engagierten Botschafterin Ursula Fahringer und Mitarbeitern der Auslandsvertretung wurden unzählige Konversationen mit zivilgesellschaftlichen Akteuren vor Ort geführt.

Wir sind in Fischerdörfer gefahren und in Orte, von denen die Boote ablegen, wir haben mit Wissenschaftlern und Studenten gesprochen, mit Politikern und Bürgermeistern, mit religiösen Führern wie einem muslimischen Marabout und einem katholischen Bischof. Wir hatten beeindruckende Begegnungen mit engagierten Vertretern von NGOs, die unter schwierigen Bedingungen Leuten eine Ausbildung verschaffen, um sie von der lebensgefährlichen Fahrt über den Atlantik abzuhalten und solchen, wie etwa der Caritas Senegal, die Rückkehrern bei der Reintegration in die Gesellschaft und beim Neustart behilflich sind. Wir haben Menschen getroffen, die selbst die Überfahrt im Boot gemacht hatten, und solche, die von den Behörden repatriiert worden waren. Sogar einen ehemaligen reuigen Schlepper haben wir kennen gelernt, der in Spanien als Kapitän des Schiffes verhaftet worden war und vier Jahre im Gefängnis saß, bevor man ihn wegen guter Führung entließ und mit dem nächsten Flugzeug nach Dakar expedierte.

Wir haben also die soziale Pyramide von zuoberst bis zuunterst durchwandert, sind mit Menschen aus den unterschiedlichsten Lebensräumen ins Gespräch gekommen; quer durch soziale Klassen und Milieus erlebten wir ein Kaleidoskop verschiedenster Interessensgruppen.

Die Universitäten sind politisiert und in weiten Teilen links ausgerichtet. In Saint-Louis und noch mehr in Dakar sind wir auf heftige Kritik gestoßen. Von professoraler Seite wurde uns höflich beschieden, dass die Beiträge der EU im Hinblick auf Migrationswillige bescheiden seien. Von Studenten und Studentinnen, hochgebildet und interessiert, wurden wir in geschliffenem Französisch gefragt, ob es überhaupt eine Migrationspolitik der EU gebe.

Stellenweise fühlten wir uns zurückversetzt nach Paris im Mai 1968. Zu verschiedenen Verbrechen, die Europäer je in Vergangenheit und Gegenwart in Afrika begangen haben, wurden wir um Stellungnahme gebeten. Wie wir es rechtfertigen würden, dass Europa weit mehr aus Afrika herausziehe als hineinpumpe. Ob der Vorwurf nun an Einzelpersonen oder Politiker oder Firmen oder Brüssel generell gerichtet war, wurde nicht näher ausgeführt. Wir hörten, dass die EU nicht inklusiv sei und Entscheidungen bei Projekten über die Köpfe und Interessen der Afrikaner hinweg treffe. Und vor allem wurde gefordert, dass es ein Recht auf Migration gebe oder geben müsse.

Von soziologischer Seite wurde festgehalten, dass Migration kein ökonomisches, sondern ein soziales Phänomen sei. Der Mann im Fischerort, dem wir dies erzählten, brach in Gelächter aus; er würde die Damen und Herren aus den Universitäten gerne in sein Dorf einladen, wo sie sich überzeugen könnten, wo die Probleme liegen.

Dennoch kann man sich dieser Deutung teilweise anschließen. Nicht alle sozialen Gruppen werden erfasst, es betrifft eher ärmere Personen, weniger Gebildete, weniger Ausgebildete. Doch es sind nicht die Allerärmsten, die migrieren, denn diese können sich die Überfahrt nicht leisten. Mit dem Betrag, den sie an die Schlepper bezahlen, meist um die 400.000 bis 500.000 F CFA (rund 600 bis 750 Euro), könnten sie auch ein kleines Unternehmen vor Ort starten. Wenn ein begüterter Mann ein Touristenvisum in die EU erhält und dann nicht fristgerecht wieder ausreist, sondern in die Illegalität abtaucht, sind offensichtlich nicht finanzielle Gründe ausschlaggebend für sein Handeln; ebenso, wenn Beamte und sogar Militärs, die ja von ihren Gehältern leben können, auf abenteuerlichen Wegen emigrieren und irregulär europäischen Boden betreten.

Mütter als treibende Kräfte

Eines Vormittags erhielten wir den Besuch einer Frauenorganisation, zehn ehrwürdige goldschmuckbehangene Damen in ihrem zweitbesten Boubou haben uns weibliche Perspektiven zur Migration nahegebracht. Sie haben uns von dem Kummer und der Trauer in den Familien erzählt, wenn ein Mitglied vermisst ist oder gar tot gemeldet wurde. Sie haben uns wissen lassen, dass Frauen keineswegs nur bedauernswerte Zurückgelassene und Leidtragende, sondern Akteurinnen und treibende Kräfte der irregulären Auswanderung sind.

Wenn Mütter ihre Kinder zur Reise über den Ozean bewegen und Frauen ihre Männer, weil der Sohn oder Ehemann der Nachbarin regelmäßig Beträge aus dem Ausland überweist, dann ist das Konkurrenzdenken entscheidender als die Sorge um die Angehörigen. Andererseits verlassen Frauen ihre Männer, beanspruchen Autonomie und migrieren. Sie verkaufen sogar ihren Goldschmuck, das Kapital, die Rücklage für Notzeiten, um die Überfahrt zu bezahlen, was überdeutlich macht, dass ebenso soziale Faktoren bestimmend sind wie ökonomische.

Im Verborgenen

Die gesamte Organisation passiert im Geheimen. Die Schleppernetzwerke haben kein Interesse daran, dass ihre Aktivitäten publik werden, sowohl Personal wie auch Kunden werden durch Mundpropaganda und soziale Netzwerke rekrutiert. Niemand weiß, ob sein Nachbar nicht von den Schleusern angeworben wurde, allenfalls bestehen Vermutungen, da die betreffende Person sich in Schweigen hüllt. Bei der Beschaffung von Booten, Treibstoff, Wasser, Essen und der ganzen Ausrüstung wird jegliches Aufsehen tunlichst vermieden.

Die Denunziation passiert ebenso heimlich. Wenn Fremde im Dorf auftauchen, die anscheinend zu niemand Konkretem in Kontakt stehen, ist das schon eine verdächtige Aktivität, die bei den Gegnern der irregulären Emigration die Alarmglocken schrillen lässt, sodass sie die eingebundenen Behörden informieren. Auch dies passiert im Schutz der Anonymität aus Angst vor Repressalien gegenüber der Familie der Denunzianten, die ihr Tun damit rechtfertigen, dass sie Leben retten. Denn in der Vergangenheit ist es geschehen, dass diejenigen, die eine Abfahrt verhinderten, schwer beschuldigt wurden, dass sie die Kandidaten einer Chance, gar ihrer Zukunft beraubt hätten, dass sie neidisch seien, es kam zu Gewaltakten gegenüber deren Angehörigen.

Auch die Abfahrt der Boote, der Zeitpunkt wird geheim gehalten, ebenso der Ort, die Ablegestelle irgendwo an einem einsamen Strand. Die Migranten werden in der Nähe untergebracht, halten sich versteckt und warten, stets startbereit. Und wenn der Anruf kommt, schleichen sie im Dunkel der Nacht zu dem angegebenen Platz, einzeln, gebückt und auf allen Vieren, dass man sie nur ja nicht sehe, und eventuell jemand auf die Idee kommen könnte, die Küstenwache zu verständigen.

Und schließlich die Personen selbst, die sich auf die Boote begeben, sie behalten ihre Pläne für sich, informieren weder Familie, noch Freunde, verabschieden sich nicht, obwohl sie wissen, dass sie ihre Angehörigen vielleicht niemals wiedersehen werden. Es könnte ja jemand darunter sein – und es wäre ganz sicher jemand darunter, der sie von dem gefährlichen Weg abhalten wollte.

Träume, Fake News, Lügen

Im Übrigen ist ein erstaunliches Phänomen zu bemerken, nämlich Parallelen zwischen den Mythen über Migration in Senegal und den Erzählungen der extremen Rechten in Europa. Die Aufstiegsgeschichten, die über Auswanderer und ihren angeblichen Reichtum kursieren, klingen diesseits und jenseits des Atlantik paradoxerweise recht ähnlich, bis hin zur konkreten Wortwahl.

So wird etwa berichtet von einem prächtigen Haus, das jemand nach nur drei Jahren illegaler Arbeit in Spanien für seine Familie im Senegal errichtet habe – manchmal sogar von mehreren Häusern. Solche Erfolgsmeldungen motivieren andere zur Auswanderung, verschweigen aber die tatsächlichen Bedingungen: harte Arbeit, niedrige Löhne, immense persönliche Opfer.

Falls diese Häuser tatsächlich existieren, stammt das Geld zu ihrer Errichtung eher nicht von ein paar Jahren Straßenverkauf oder Saisonarbeit in der Landwirtschaft, sondern sehr viel wahrscheinlicher aus kriminellen Aktivitäten wie Drogenhandel, Einbruchdiebstahl oder Ähnlichem.

Der Diskurs der extremen Rechten klingt erstaunlich ähnlich und zeigt vergleichbare Muster. Es wird ein Bild gezeichnet von Migranten und Asylwerbern, die angeblich im Wohlstand leben, finanziert durch großzügige Sozialleistungen – und dass sie mit diesen Geldern in kürzester Zeit in ihren Herkunftsländern Häuser erbauen. Dieses Narrativ übertreibt die Unterstützung, die Migranten tatsächlich erhalten, und ignoriert die vielen Hindernisse, mit denen sie konfrontiert sind wie schwierige Arbeitsmarktzugänge, Diskriminierung und prekäre Lebensbedingungen.

Hier wie dort sind die vermuteten Besitztümer das zentrale Thema, während die negativen Begleiterscheinungen und der harte Weg dorthin ausgeklammert werden. Die Erfolgsgeschichten sind Lügengeschichten. Beide Erzählungen – obwohl mit unterschiedlicher Zielrichtung entstanden – erzeugen falsche Vorstellungen über die Möglichkeiten von Migranten. Und sie beruhen – wenngleich inszeniert in Senegal als Verheißung, in Europa als Bedrohung – auf denselben Mechanismen: Vereinfachung und Verzerrung, Stereotypisierung und Übertreibung. In Senegal nähren sie Sehnsüchte und Hoffnungen, in Europa schüren sie Angst und Ablehnung.

Um solchen Märchen entgegenzuwirken, braucht es – hier wie dort – Aufklärung, Sensibilisierungskampagnen, die Verbreitung überprüfbarer Fakten und authentische Geschichten von Migranten. Nur so können die komplexen Zusammenhänge des sozialen Phänomens Migration sichtbar gemacht werden. Das haben wir mit unserem Projekt in Senegal versucht.

Es scheint wie ein Virus in den Köpfen zu sein. Viele Auswanderungswillige wissen, was sie in Europa erwartet, sie werden xfach gewarnt von Gegnern der irregulären Migration, von Politkern und Medien, von Lehrern und religiösen Würdenträgern, aber sie müssen es trotzdem tun. Die Metapher des Virus wurde von vielen Dialogpartnern benutzt.

Stigmatisierung bei Scheitern

Tekki (erfolgreich sein, Erfolg in der Sprache Wolof) heißt das gesellschaftliche Konzept, das Individuen dazu drängt, individuelle Leistungen zu erbringen, dabei ökonomischen Erfolg zu haben und diesen wieder in die Gemeinschaft einfließen zu lassen.

Der Erfolgsdruck in der Gesellschaft ist so groß, dass die Migranten im Falle eines Scheiterns, wenn sie repatriiert werden, gesellschaftlich geächtet, sogar stigmatisiert, sogar von ihren Familien ausgestoßen werden, da man sie als Taugenichtse betrachtet, die nicht einmal in der Lage sind, für ihre Familie ein schönes Haus zu erbauen.

Aus all dem wird deutlich, dass die Positionen Europas und Senegals bezüglich Migration gegensätzlicher nicht sein könnten. In Senegal wird oft ein Recht auf Migration gefordert. Europa schuldet ihnen das, schließlich wurden sie kolonisiert und jetzt wäre es höchst an der Zeit, dass Europa diese Schuld abträgt. Doch in der EU will man davon nichts hören und erteilt nur qualifizierten Fachkräften eine Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung.

Nichts weniger als ein Kurswechsel ist erforderlich. Solange Hilfe vor Ort nur ein Schlagwort ist, solange Fluchtursachenbekämpfung nichts anderes ist als Flüchtlingsbekämpfung, solange werden Menschen Boote besteigen, um unter Einsatz ihres Lebens Europa zu erreichen. Es wird nicht damit getan sein, dass Europa seine Grenzen dichtmacht. Solange die Leute in ihren Heimatländern keine Zukunft und keine Perspektive sehen, werden sie auswandern wollen. Die Antwort Europas kann langfristig nur sein, sich massiv am Aufbau von Arbeitsplätzen im subsaharischen Afrika zu beteiligen.