Mursi-Prozess in Ägypten: Falsch verstandene Demokratie

Die Generäle verstärken das Problem, das sie zu bekämpfen vorgeben.

Radiobeitrag in: WDR 5, Politikum, 4. 11. 2013

Die Strafverfahren in Ägypten nehmen kein Ende und die Proteste dagegen auch nicht. Letzte Woche ist der Prozess gegen die Führungsriege der Bruderschaft vom Gericht überraschend wegen Befangenheit niedergelegt worden. Seit heute ist der politische Flügel an der Reihe, gegen Ex-Präsident Muhammad Mursi und 14 Funktionäre wird wegen des Todes von Demonstranten verhandelt.

Anstiftung zum Mord ist da wie dort der Hauptanklagepunkt, Massendemonstrationen in den Städten sind da wie dort das unvermeidliche Begleitszenario. Auf den Transparenten wird die “Standhaftigkeit des Präsidenten” beschworen oder beklagt, es sei ein “Prozess gegen den Volkswillen”.

Man kann es nicht oft genug wiederholen: Muhammad Mursi war der demokratisch gewählte, am 3. Juli durch das Militär hinweg geputschte Präsident. Die Proteste von Teilen der Bevölkerung gegen diesen Sturz sind legitim. Dies gilt auch, wenn Mursi und seine Führungsriege politisch grandios versagt haben und wenn sie selbst die demokratischen Prinzipien durch ihr Handeln verraten haben.

Die ägyptischen Muslimbrüder scheiterten an einem Missverständnis, an einer falschen Vorstellung davon, was Demokratie sei. Sie dachten, da müsse man einmalig Wahlen gewinnen und könne dann nach Belieben schalten und walten, und alle Andersdenkenden so behandeln, wie sie selbst seit ihrem Bestehen behandelt wurden – und heute wieder behandelt werden. Anders ausgedrückt: Sie wollten die Demokratie dazu benutzen, ein autoritäres Regime nach ihren Vorstellungen zu schaffen.

Es wäre demokratisch gewesen, eine Regierung, die sich als unfähig erweist, dem Volkswillen auszusetzen und abwählen zu lassen. Nun werden Märtyrer produziert, täglich kommen neue dazu, seit die Bruderschaft illegalisiert, ihre Würdenträger hinter Gittern festgesetzt oder in den Untergrund getrieben wurden. Faktisch werden sie dazu gezwungen sich zu bewaffnen. Mit jedem Toten wächst die Wut auf beiden Seiten, die Militärs verstärken selbst das Problem, das sie zu bekämpfen glauben, während die Religiösen zunehmend Rückhalt verlieren und die Sympathien im Lande und in der Welt verspielen. Sie brauchen einander, die Uniformierten und die Bärtigen, nur solange sie gegeneinander arbeiten, können sie das Lagerdenken zementieren, nur so lange beweisen sie ihren Anhängern die jeweilige Handlungsberechtigung. Und die Generäle und Kleriker liefern einander wechselseitig die Argumente, die auf beiden Seiten die Radikalisierung begründen und in ihren Augen rechtfertigen.

Das alttestamentarische Auge um Auge, Zahn um Zahn, das derzeit in Ägypten praktiziert wird, ist aber als Methode des politischen Handelns unweigerlich zum Scheitern verurteilt, wie eine mehrtausendjährige Kriegsgeschichte beweist. In vielen Demokratisierungsprozessen an vielen Orten ist offenbar geworden, dass langfristig nicht Zuschlagen sondern nur Verhandeln zu nachhaltigen Friedenslösungen führen kann: Wortgewalt statt Waffengewalt. In Ägypten ist man davon gerade sehr weit entfernt.