Wie leise sind doch die Proteste aus Brüssel und Washington gegen das gezielte Morden in Kairo? Bloß um den Schein zu wahren legen sie zeitweise ein wenig an Schärfe zu. Die Medienberichterstattung ist tendenziös und überwiegend Anti-Muslimbrüder und Pro-Militär. Vor Gläubigen und Theologen fürchtet man sich in aufgeklärten westlichen Ländern mehr als vor Generälen.
Radiobeitrag in: WDR 5, Politikum, 19. 8. 2013
Hunderte Tote – und dennoch wird das Wort Massaker in Anführungszeichen gesetzt ("Massaker"). Da ist die Rede von "Räumung" oder Auflösung" der Protestlager, obwohl sie doch niedergewalzt und leer geschossen wurden. Da kann man lesen: "Es sieht aus wie ein Schlachtfeld" – wo es doch eines ist.
Hätten aber diejenigen, die man hierzulande "Islamisten" zu nennen pflegt, zu wiederholtem Male ein Gemetzel angerichtet mit Höhepunkt am Mittwoch, dem 14. August 2013 in Kairo – ein mediales Höllenspektakel wäre losgebrochen.
Die Partei Mohammed Mursis ist mit demokratischen Mitteln an die Macht gelangt, und sie wurde mit undemokratischen Mitteln von ihr hinweggefegt. Seither muss sie zusehen, wie ihre Anhänger, Männer, Frauen und Kinder, abgeschlachtet werden. Man mag gar nicht daran denken, was die Muslimbrüder in aller Welt und ihre Anhänger in Hinkunft von westlichen Werten, von Demokratie und Menschenrechten halten werden. Letzte Woche mussten sie Hunderte der ihren zu Grabe tragen, und mit jedem Toten werden sie die Märtyrer-Rolle umso mehr zelebrieren.
Die Auswirkungen auf die Kräfteverhältnisse in Nahost und Nordafrika sind noch gar nicht absehbar. Verschiebungen in der Machtstruktur des geopolitisch und strategisch wichtigen Ägypten strahlen bis in jeden Winkel der Region:
Seit Längerem herrscht auf der Sinai-Halbinsel Anarchie, dort tummeln sich Kriminelle, besonders Menschen- und Waffenhändler, solche, die den Islam für ihre Taten als Beweggrund vorschieben und solche, die ihre Geschäftsinteressen nicht religiös behübschen.
Wie entwickelt sich die Lage in Palästina, jetzt wo die Hamas im Gaza mit Mursis Sturz ihren wichtigsten internationalen Unterstützer verlor? Wie entwickelt sich die Lage in Tunesien und in der Türkei? In beiden Ländern regieren Gesinnungsgenossen der Muslimbrüder, in beiden Ländern wächst die Unzufriedenheit mit ihnen.
In Ägypten wollen die Gerüchte, dass der Militärputsch von langer Hand geplant und mit kräftiger saudi-arabischer Finanzhilfe durchgeführt wurde, nicht verstummen. Zudem sind die Generäle, die sich zynisch als Hüter der Demokratie aufspielen, der US-amerikanischen Unterstützung sicher. Man darf annehmen, dass die ägyptische Führung am Mittwoch mit Wissen und Billigung der USA und Israels zuschlug, und Saudi-Arabiens sowieso. Denn die Gelder, die die USA nach Ägypten fließen lassen, finanzieren im Wesentlichen Waffen und Kriegsgerät. Diese Dollars sind in Wirklichkeit eine Exporthilfe für die amerikanische Wirtschaft.
Mit Recht warf der türkische Premier Erdoğan dem Westen vor, mit zweierlei Maß zu messen. Denn es zeigt sich gerade wieder in größter Deutlichkeit die westliche Doppelzüngigkeit: Die Forderung nach Demokratie ist bloß eine rhetorische Volte, die USA, die EU pfeifen auf Demokratie in der arabischen Welt, und viele Medien stimmen in den heuchlerischen Chor ein. Hauptsache, die Machthaber in Nordafrikas wichtigstem Land sind berechenbar. Dann kann man mit ihnen Verträge und Geschäfte abschließen, und außerdem sichern sie Europas Südflanke vor unerwünschten Einwanderern.
Die Partei Mursis hat ihre Regierungsunfähigkeit eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Aber nun besteht die absurde Situation, dass die einzige relevante politische Kraft, die in Kairo noch für Demokratie kämpft und stirbt, die Muslimbrüder sind, denen Demokratiefähigkeit immer abgesprochen wurde.