Die Utopie des Reisens unter dem Regime der Corona

Kann man den Rückzug aus der Weite hinein in eine Enge auch als Aufbruch in eine neue Selbstbestimmtheit begreifen?

Der Essay ist leicht gekürzt in Der Standard vom 6. 6. 2020, Album S. 3 erschienen.

Es sind nicht alle gleich vor den Viren und auch nicht vor den virenbedingten Restriktionen und Anschlägen auf die Autonomie der Person. Plötzlich wurde die Menschheit geschieden in die Kategorien systemrelevant oder entbehrlich. Auch wenn die globalisierten Coronaregime durch konformes Staatshandeln eine Unzahl von Beschäftigungslosen und Kurzarbeitern produziert haben, wird das sommerliche Bedürfnis nach Erholung und Abwechslung bestehen bleiben. Da es zudem niemanden gibt, dessen Leben und Alltag nicht von Grund auf umgekrempelt wurde, müssen die Freizeit- und Urlaubspraxen neu erfunden werden.

Inzwischen mag der Stillstand der Reise- und Urlaubsmaschinerien, der Freizeit- und Unterhaltungsindustrien dem irdischen Klima eine Erholung gewähren. Das könnte ein Anlass sein, die eigene Biografie Revue passieren zu lassen und zivilisationskritisch zu überlegen, ob man wirklich so viele Fernreisen braucht, so viele Städtekurztrips und Erlebniswelten, Großausstellungen und Megaevents, internationale Konferenzen und Messen. Auch könnte sich mancher selbstkritisch fragen, ob nicht bei der rasenden Lebensgeschwindigkeit das eine oder andere übersehen oder gar versäumt wird, ob nicht zuweilen die Muße der Hektik vorzuziehen ist und die Ruhe dem Lärm.

Krisen zerren das Beste und das Schlechteste, das in Menschen steckt, ans Tageslicht, sagt man, und das gilt offenbar auch für Institutionen. Corona hat Nationalismen, Regionalismen und Lokalchauvinismen zum Erblühen gebracht. EU-Mitgliedsstaaten setzten Maßnahmen, die einander diametral entgegengesetzt waren und zeigten die Unfähigkeit und Unwilligkeit der Union zu gemeinsamem Handeln. Innerhalb Deutschlands agierten Bundesländer so, als ob es keine Bundesrepublik gäbe.

Die verständliche Furcht vor Krankheiten wurde zwecks Bekämpfung von deren Erregern von politischen Seiten heftig geschürt – Kontrolle über die Menschen war eine wesentliche Strategie im Kampf gegen die Viren. Die organisierte Panikmache, die regelmäßigen Ministeransprachen, die tägliche Angstproduktion in allen Medien waren sehr effizient und haben von heute auf morgen für Leere in den Straßen, Leere in den Verkehrsmitteln und Leere in den Köpfen gesorgt. Nachdem die Leute begonnen hatten, in den eigenen vier Wänden zu arbeiten und im Home-Office zu wohnen, hat die globalisierte Weltläufigkeit, die kurz davor noch schick war, einer biedermeierlichen Kleingeisterei Platz gemacht.

Das Schließen der äußeren Grenzen offenbart die inneren Grenzen, wenn Bezirke und Kommunen beginnen sich abzuschotten. Es sind kurzsichtige Selbstsüchteleien, wenn an schönen Wochenenden die Parkplätze in den Seengebieten blockiert werden, um Ausflügler fernzuhalten, wenn eine Gemeinde die Wasserzufuhr für Feriensiedlungen sperrt, wenn Zweitwohnungsbesitzer aufgefordert werden, zu Hause zu bleiben, wenn Ortsfremde von Dörflern beschimpft werden, wenn auswärtige Autokennzeichen bespuckt werden, wenn Seebäder nur noch für Anrainer zugänglich sind. Etymologisch hat sich der „Gast“ aus dem althochdeutschen „Fremdling“ entwickelt, und dahin mutiert er nun zurück. In guten Zeiten freundlich empfangen, wird er plötzlich feindlich abgewehrt, verdächtig, statt Geld und Wohlstand die Pest in die Idylle zu bringen. Wird das dem Tourismus zuträglich sein?

Ebenso dramatisch, wenn auch anders strukturiert als in den westlichen hochindustrialisierten Ländern zeigen sich Corona und ihre Begleiterscheinungen in Staaten mit geringerem Prokopfeinkommen. Ausgangssperren, mangelnde Verdienstmöglichkeiten und ungenügende medizinische Infrastruktur machen die Lage unübersichtlich. Vielerorts wird befürchtet, dass Revolten drohen, wenn bei großen Gruppen von Menschen der Magen ebenso leer ist wie die Geldbörse.

Ein Land, das über den Gesundheitszustand seiner Bewohner nur spekulieren kann und seine Sicherheitslage nicht im Griff hat, braucht auch nicht auf den Tourismus als Devisenbringer zu hoffen. Unbekannte Infektionsraten verursachen ähnliche Unsicherheiten und Ungewissheiten wie kriegerische Handlungen, Aufstände oder auch nur Demonstrationen, die durch die internationalen Medien geistern, Ängste schüren und Kunden am Buchen hindern. Viren und Bakterien sind ebenso eine Bedrohung für Leib und Leben wie hochgehaltene Waffen. Jegliche Gefahr bringt die internationale Reisetätigkeit zum Erliegen, auch wenn sie nur imaginiert ist, auch wenn die Wege nicht durch behördlich verordnete Grenzschließungen abgeschnitten werden. Die Geschichte des internationalen Tourismus hat gezeigt, dass Reiseströme immer dann versiegen, wenn in einem Zielgebiet unkalkulierbare Risiken nicht ausgeschlossen werden können. Pauschaltourismus mit Wunsch nach Abenteuern gibt es nicht, deren Nichteintreten muss ein Veranstalter garantieren können, und er haftet auch dafür. Das Gegenteil von Freiheit ist Gesundheit, sagt die Schriftstellerin Juli Zeh. Massentourismus braucht keine Freiheit, sondern Sicherheit.

Wenn Länder für Ankommende eine vierzehntägige Quarantäne verordnen, ist Reisen nur noch für eine Minderheit attraktiv. Solche Zwänge nehmen allenfalls Individualisten, Weltenbummler und Abenteurer auf sich, Leute mit viel Zeit, hohem Budget und ausgeprägtem Eigensinn. Ein Massentourismus wie er in den zwei Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts üblich wurde, könnte unter solchen Bedingungen nicht funktionieren. Es gäbe weder Kreuzfahrtschiffe mit Tausenden von Passagieren, noch Schischaukeln, die die Landschaften und Ökosysteme mehrerer Täler ruinieren. Es gäbe auch nicht die überfüllten historischen Kerne in den europäischen Hauptstädten, in denen kein Weiterkommen ist, weil Fotografierende und Schlendernde in spärlicher Bekleidung alle Wege verlegen, die Durchgänge verstellen und alle Stühle in den Gastronomiebetrieben besetzen.

Kann die längst von Klimatologen und Ökoaktivisten geforderte Entschleunigung der Mobilität einem winzigen Virus gelingen? Eine Besinnung auf die Transportmittel des 19. Jahrhunderts, als die Fortbewegung mit Bahn und Postkutsche, zu Pferd, zu Schiff und zu Fuß erfolgte, möge die Fantasien beflügeln und den Urlaubswilligen neue, wenn auch altbekannte Richtungen weisen. Im Coronarhythmus werden die Wege länger und beschwerlicher, und die Reisegeschwindigkeit sinkt. Doch die Ziele, bisher immer weiter in die Ferne verlagert, werden wieder in die Nähe rücken. Das Abhaken von Sehenswürdigkeiten, die mit Sternen bekrönt sind, könnte, wer will, ersetzen durch ein kontemplatives Verweilen an Orten, die Anmut und Charme aus ihrem unprätentiösen Charakter beziehen.

Das Bedächtige, bis jetzt nur attraktiv für Außenseiter, Aussteiger und Alte, wäre wohl tauglich als Programm und Motto für einen neuen Reisestil, der gar so neu nicht ist, aber dem Vergessen erst noch entrissen werden muss. Im Jahr 1983 landete Sten Nadolny mit seinem Roman „Die Entdeckung der Langsamkeit“ einen Longseller. Darin kann der Polarforscher John Franklin wegen seiner Langsamkeit der Geschwindigkeit seiner Zeitgenossen nicht standhalten. Mit dem Tempo kommt er nicht mit. Aber mit Beharrlichkeit kommt er zu Erfolg und Ansehen.

Das Langsame hat keinen guten Ruf, ihm haftet ein Odeur von Inkompetenz und Unfähigkeit an. Von den Adepten des Immer-Mehr und Immer-Schneller wird es gern gleichgesetzt mit dem Rückständigen, Ewiggestrigen, Begriffsstutzigen. Doch jetzt könnte es eine neue Mode beschreiben oder gar einen neuen Zeitgeist begründen, der nicht nur Individualisten und Systemverweigerern entspricht. Dass Ruhe nicht zwingend Stillstand bedeutet, muss wohl erst noch entdeckt werden, ebenso, wie langsam eigentlich langsam ist.

Mit der neuen Gemächlichkeit gewinnt ein alter Urlaubstyp wieder Aktualität. Balkon, Terrasse und Hausgarten – bisher als Zuflucht für Leute mit knapp bemessenem Budget betrachtet oder als Ferienersatz für Reiseunwillige und Spießer belächelt – werden vielleicht eine neue Bedeutung erlangen. Bei näherer Betrachtung ist Destination Dahamistan durchaus eine Alternative mit lohnenden und entspannenden Facetten. Gewiss ist diese Variante der Erholung die billigste, die Ausgaben sind überschaubar, versteckte Kosten eher unwahrscheinlich. Man kann es sich sparen, Angebote auf Prospektwahrheit hin abzuklopfen, unangenehme Überraschungen, weil das Urlaubsprodukt nicht hält, was die Werbung verspricht, sind ausgeschlossen. Wer in den Sommerferien auf Balkonien faulenzt, schlägt der Hauptsaison ein Schnippchen, leidet weder an Staus auf den Autobahnen oder an den Grenzen, noch an überbuchten Hotels. Vor Ort ist alles wie gewünscht. Unter solchen Bedingungen ist gut lachen, die Entschleunigung begrüßen und Kuchen backen. Es bleibt einem die Erfahrung erspart, was ruhige Lage tatsächlich bedeutet, nämlich: weitab vom Zentrum oder Fenster in einen Hinterhof. Und man bleibt auch von dem Erlebnis verschont, was zentrale Lage heißen kann: in einer verkehrsreichen, lärmigen Straßenkreuzung gelegen. Dresscodes, Besichtigungszwang und Kulturstress sind ersatzlos gestrichen. Unfreundlich ist nicht das Personal, sondern allenfalls die eigenen Urlaubsbegleiter, also Familie und Freunde.

Der Gesundheit ist so ein Heimurlaub ausgesprochen zuträglich. Nebenwirkungen durch Impfungen und Prophylaxen bleiben aus. Es gibt kein ungewohntes Essen, das nicht schmeckt, aber Magenbeschwerden verursacht, keine zu üppigen Buffets, die den Leibesumfang erweitern, keine morgendlichen Kopfschmerzen vom abendlichen All inclusive Wein. Im Salat und im Obst lauern keine unbekannten Viren und Bakterien auf der Suche nach einem neuen Wirt, und die Luft in dieser Sommerfrische ist nicht geschwängert von tropischen Krankheitserregern.

Es richtig krachen lassen in Dahamistan – und man muss noch nicht einmal früh aufstehen, um die Liegestühle zu reservieren wie am Ballermann. Aus den Lautsprechern dröhnt keine Musik, die niemand hören will, und es nerven keine penetranten Animateure mit ihrer Zwangsbespaßung. Wenn die Sonne sticht, entflieht man mit wenigen Schritten ins kühle Innere. Keine lästigen Haustiere wie Mücken, Fliegen, Ameisen sind zu bekämpfen. Wortwechsel mit aufdringlichen Souvenirhändlern, lästigen Straßenverkäufern, selbsternannten Guides entfallen, ebenso die Angst vor Kleinkriminalität. Das Abenteuer besteht im Wesentlichen darin, mit sich selbst und seinen Liebsten zurande zu kommen. Ansonsten sind die Urlauber auf Balkonien gegen Überraschungen gefeit.

Dass der Urlaubstraum nicht zum Urlaubstrauma wird, empfiehlt sich zwischendurch eine kleine Zerstreuung, etwa ein Ausflug. Dazu muss man nicht einmal vor die Türe treten, bequem aus dem Sessel bucht man mit den Schriftstellern Xavier de Maistre und Karl-Markus Gauß eine Reise durch das eigene Zimmer. Die Odyssee entlang des Inventars wird dabei durchaus zum Abenteuer. Ein Blick durch die Wohnung lässt den Stubenhocker erkennen, dass ziemlich viel Welt von draußen ins Private eingedrungen ist. In den persönlichen Besitztümern manifestiert sich das Ferne und das Vergangene. Den Raum auswendig lernen wie Sten Nadolnys Protagonist das Schiff, auf dem er angeheuert hat, entspannt den Geist und erholt die Seele, schärft nebenbei den Blick für Einzelheiten, erhöht die Sorgfalt, schult das Gedächtnis. Von den Gegenständen lernen, die Vergangenheit reflektieren, die Biografie der Dinge auskundschaften, das Verborgene in ihnen entdecken – die Forschungsreise durch das eigene Reich offenbart Vorlieben und Abneigungen, eröffnet ungeahnte Perspektiven, entpuppt sich als Expedition ins Innere, ins Selbst.

Der ultimative Geheimtipp des bedächtigen Urlaubens ist aber: auf Schusters Rappen reisen. Nur wer zu Fuß geht, sieht die Kleinformate der Welt, das Unscheinbare, das zu Unrecht gering Geschätzte. Selbst das Fahrrad ist oft zu schnell, um die verborgenen Schönheiten am Wegesrand würdigen zu können. Anregungen liefert Johann Gottfried Seumes „Spaziergang nach Syrakus“. Vom Dezember 1801 bis zum August 1802 marschierte er von Leipzig über Wien, Ljubljana, Venedig, Rom und Neapel nach Siracusa auf Sizilien und über Mailand, Zürich und Paris wieder zurück. Fast die gesamte Strecke legte er zu Fuß zurück. Auch diese Reise führte nicht nur zu Erkenntnissen über die ergangenen Orte, die er mit scharfem Auge für soziale und politische Missstände beschreibt, sondern auch zu Einsichten in die eigene Person.

Da zu Hause bleiben und zu Fuß gehen nicht jedermanns Sache ist, werden Menschen weiterhin durch die Welt rasen, wenn sie nicht durch äußere Umstände oder persönliches Ungemach davon abgehalten werden. Gewiss wird Urlaub im Inland nun mit Nachdruck beworben werden, die Sommerfrische eine Renaissance erfahren, wenn auch vielleicht nur vorübergehend. Mit den durch Corona gewonnenen Einsichten über die Fragilität einer globalisierten Welt kommt vielleicht der eine oder die andere zu der Erkenntnis, dass mit Bedacht und Gemächlichkeit beim Ferienmachen zwischendurch mehr gewonnen ist als beim hektischen Kilometerfressen rund um den Globus.