Ältere Menschen haben es satt, im Namen der Heiligen Corona als hilfsbedürftige Alte stigmatisiert zu werden.
Der Kommentar ist leicht geändert in Die Presse vom 3. 4. 2020, S. 26 erschienen.
Die Einführung unbequemer Maßnahmen – deren Notwendigkeit hier nicht in Zweifel gezogen wird – erfolgt in zermürbender Regelmäßigkeit mit Verweis auf Alte und Kranke. 20- und 30-Jährige fühlen sich berechtigt und sogar verpflichtet, ihre Eltern und Großeltern zu ermahnen und zu maßregeln, was sie nun zu tun und zu lassen haben. Aber dieses „Wir müssen unsere Senioren schützen“ – viele der Generation 65plus können es nicht mehr hören.
Ist dies nicht ein Ageismus, der sich in ein Gewand der Fürsorglichkeit kleidet? Ist dies nicht die übliche Altersdiskriminierung, die es den Alten in diesen unüblichen Zeiten noch schwerer macht, ihren gesellschaftlichen Beitrag zu leisten?
Den Großeltern wird eingetrichtert, dass sie gesellschaftlich unverantwortlich agieren, wenn sie ihren Enkeln in die Nähe kommen, weil die sie anstecken könnten. Es läuft darauf hinaus, dass man sich nicht selbst in Gefahr begeben darf, weil man dann gesellschaftlich eine Gefahr ist. Es läuft darauf hinaus, dass man als Alter nicht so unverantwortlich sein darf, ein Spitalsbett mit Apparaturen und Zubehör beanspruchen zu müssen. Denn die medizinische Infrastruktur wird für andere benötigt, die sie dringender benötigen, die keinem Sozialsystem zur Last fallen. Sie steht Jüngeren zu, die sich nicht freiwillig in ein Risiko begeben, die sich dem Risiko unfreiwillig aussetzen, indem sie ihr Leben einsetzen und die Ärmel aufkrempeln, um den Ausnahmezustand aufrecht zu erhalten. Also: Enkel nicht streicheln! Soziales Handeln durch Verweigerung sozialen Handelns.
Die Bilder hilfsbedürftiger Senioren wecken Assoziationen zu einem anderen Diskurs: Die Alterskohorten aus den Wirtschaftswunderjahren – die etwa zwischen 1955 und 1965 Geborenen – haben sich schon lange damit abgefunden als Boomer ironisiert zu werden. Dies bedeutet nicht nur, ein veraltetes Auslaufmodell zu sein, dessen Obsoleszenzdatum nunmehr durch Covid-19 repräsentiert wird. Es bedeutet auch, als Vertreter eines geburtenstarken Jahrganges beneidet zu werden, der den Luxus der einkommensstarken Zeiten genießt und die Umwelt kaputtmacht. Außerdem gehören Boomer und Boomerin zur Erbengeneration und verprassen Wohlstand und Zukunft der Kinder und Kindeskinder, die sich keine Häuser, Autos und Urlaube mehr werden leisten können – privilegierte Alte versus prekär beschäftigte Junge.
Die bisherige Corona-bedingte Umsicht ist gerade dabei zu mutieren, und eine Varietät auszubilden, für die die Bezeichnung Altenfeindlichkeit passt. In den digitalen Netzwerken wird gewettert, wenn ein mutiger 80-Jähriger es wagt, zur falschen Zeit im Supermarkt gesehen zu werden. Es erzürnt nicht wenige Poster, wenn die wichtigste Virus-Zielgruppe, wegen der man die ganzen Maßnahmen zu erleiden hat, sich nicht an diese hält – so als ob die Krankheit Jüngere gar nicht erfasse. Solche Vorkommnisse bieten Anlass zu spitzzüngigen Bemerkungen über Altersweisheit, und zwischendurch wird die Exekutive aufgefordert, endlich hart durchzugreifen. Es ist Hochsaison für Besserwisser, Denunzianten und ehrenamtliche Blockwarte.
Im gegenwärtigen Ausnahmezustand wird ein Virus gezüchtet, ein soziales Virus, das sich gerade in exponentiellem Wachstum überall einnistet. Es droht gemeinsam mit dem biologischen Virus außer Kontrolle zu geraten, wenn sich der Corona-Diskurs verschränkt mit dem Boomer-Diskurs, wenn die Alten noch immer Geld haben werden, aber viele Junge nicht mehr.