Alle Jahre wieder

Überfüllte Strände, überteuertes Essen, überfordertes Personal: Warum begibt sich ein Großteil der Bevölkerungen der Industrienationen freiwillig und regelmäßig zu den gleichen Zeiten an die gleichen Orte?

Der Text erschien in der Wiener Zeitung, 29. 6. 2019.

Gereist wurde immer schon, die ältesten Schriftquellen befassen sich mit Mobilitäten, die Tontafelarchive aus Mesopotamien erzählen von Kriegszügen, von diplomatischen Beziehungen und von Handelsmissionen in entfernte Regionen. Gereist wird im Gilgamesch-Epos, im Alten Testament, bei Homer, die Geschichte des Menschseins ist auch eine der Bewegung im Raum.

Vormoderne Ortswechsel hatten allerdings eine Zweckmotivation, sie dienten der Eroberung (Krieg), dem Handel, der Bildung, der Gesundheit (Kur), der Religion (Pilgern) oder Familien- und Verwandtenbesuchen. Dabei wollten die Reisenden etwas für sich gewinnen, sich etwas aneignen, Terrain, Waren, Wissen, Heilung, Spiritualität, Beziehungen. Seit jeher wird die Erfüllung elementarer menschlicher Bedürfnisse auch in die Ferne verlagert.

Für 2018 hat die Welttourismus-Organisation (UNWTO) 1,4 Milliarden Touristenankünfte international errechnet, eingeschlossen Privatreisen, Geschäftsreisen und Mehrfachreisen Einzelner. Trotz Krisen und Kriegen in aller Welt war dies eine Steigerung von sechs Prozent gegenüber dem Vorjahr. Die Branche feiert Rekord um Rekord, das neunte Jahre in Folge wurde über ein ununterbrochenes Wachstum jubiliert. Das hat es seit den 60er Jahren nicht mehr gegeben. Auch für 2019 wird ein Anstieg erwartet.

Tourismus als Sonderform menschlicher Mobilität

Noch immer sind es überwiegend Angehörige von Ländern mit hohem Bruttoinlandsprodukt, die sich an der internationalen Freizeit-Mobilität beteiligen. Historisch ist die touristische Reise ein junges Phänomen, sie ist etwa so alt wie jene Epoche, die gemeinhin die Moderne genannt wird, also die Zeit seit der Aufklärung. Erst als die wirtschaftliche Basis Europas sich wandelte von einer agrarischen in eine industrielle wurde aus Reisen Tourismus.

Die touristische Reise als Freizeitreise ist unmittelbar verbunden mit Lohnarbeit und Urlaubsregelungen. Sie ist in ihrer heutigen massenhaften Erscheinungsform nur möglich auf der sozio-ökonomischen Basis einer technologisch hoch entwickelten Gesellschaft in einem liberalen Wohlfahrtsstaat, der über die infrastrukturellen und logistischen Kapazitäten verfügt, um die Beförderung und den Aufenthalt einer großen Zahl von entspannungs- und unterhaltungsbedürftigen Menschen zu bewältigen.

Mit dem regelmäßigen Ortswechsel in der Freizeit wurde aus der Zweckmobilität eine Erlebnismobilität, und die Reise wurde zur zwecklosen Reise in dem Sinne, dass die Reise an sich der Zweck ist. Solche Mobilitäten folgen nicht der Absicht, sich etwas anzueignen, das in der Ferne zu finden ist, sondern dienen allein dem Vergnügen, der Erholung, der Abwechslung. So ist der berühmte Tapetenwechsel eine der wichtigsten Reisemotivationen in Urlaub und Freizeit.

Wie soll die Urlaubstapete beschaffen sein?

Aufschluss liefern die Werbe- und Informationsbroschüren der Reisebranche, denn sie will Umsätze machen und produziert das, was Kunden kaufen. Diskursanalytische Betrachtungen von Tourismusmaterialien haben ergeben, dass Prospekte, Inserate, Kataloge, Reiseberichte, auch Reiseführer mit ihrer Bildsprache und Wortwahl stereotypisierte Darstellungen von Idyllen vermitteln. Im Vokabular findet sich eine beträchtliche Häufung von Substantiven wie „Paradies“, „Märchen“, „Traum“, „Zauber“, „Perle“ und von Adjektiven wie „leuchtend“, „bunt“, „vielfärbig“, „schillernd“, „prächtig“, „kostbar“, „weltberühmt“. Begriffe, die negativ konnotiert sind, kommen in solchen Schriften nicht vor. Die Begleiterscheinungen des durchtechnisierten Alltags einer globalisierten Gesellschaft, die zwar unentbehrlich sind, aber unromantisch, werden ausgeklammert, es finden sich keine Industrien und Plattenbauten, keine Strom- und Sendemasten, keine Kraftwerke und Kläranlagen. Die Menschen, die den Katalogseiten Leben einhauchen, sind jung, schön, schlank und gesund, und sie lächeln stets. Wenn Alte abgebildet werden, tragen sie konturierte Gesichter, die Assoziationen von interessant, friedvoll, freundlich oder weise erlauben.

In den Texten wird auch alles vermieden, was Ängste und Unsicherheiten auslösen und das Buchungsverhalten hemmen könnte. Deswegen heißen die Regionen im Branchen-Jargon nicht „Nahost“ und „Nordafrika“, sondern „Orient“, manchmal auch „Maghreb“, nicht „Israel“, sondern „Heiliges Land“, nicht „Ukraine“, sondern „Galizien“, deswegen reist man nach Kappadokien, Andalusien, Kamtschatka oder in die Südsee. Ob es diese Orte als geografische oder politische Einheiten gibt oder nicht oder zumindest historisch gegeben hat, ist unerheblich, wichtig aber, dass die Worte wohltönend sind und klangvoll, was durch eine Häufung von Vokalen garantiert ist.

Die Erlebnisindustrien leisten Hervorragendes, um die imaginären Geografien, die den Köpfen und den Sehnsüchten entspringen, in konkreten begehbaren Räumen auferstehen zu lassen. Sie sind für Kurzzeitnutzung konzipiert und gehorchen dem ökonomischen Zirkel von Nachfrage, die Angebot schafft und Angebot, das Nachfrage schafft.

Die Magie der Gärten

Der Ethnologe David Picard untersuchte die tropischen Gärten auf Reunion, weniger die nicht kultivierten Landschaften außerhalb der Siedlungen, als speziell für touristische Nutzung konzipierte Anpflanzungen, insbesondere Hotelgärten. So stellt er fest, dass die Anlagen einer erstaunlichen Standardisierung und Uniformität unterliegen, dass sie idealisierte Visionen des Tropischen wiedergeben, dass sie vormoderne Paradiesvorstellungen inszenieren, die ihrerseits zurückgehen auf den Topos des alttestamentarischen Garten Eden.

Die Magie der Gärten wirkt, der Luxus in den Hotelanlagen trägt das Seine bei, dass Urlauber in tropischen Insellandschaften sich wunderbar in Träumen und Fantasien verlieren können. Dabei spielen natürlich auch die warmen Abende, die lauen Nächte eine Rolle zu einer Jahreszeit, in der Europa im Winter versinkt. Offensichtlich ist das Verlangen nach zeitweisem Ausgleich und Abwechslung so groß, dass auch Staus und Stechmücken, Verdauungsbeschwerden und Beziehungsstress und was sonst so das Urlaubsvergnügen trübt, die Lust auf das regelmäßige Verreisen nicht nachhaltig gefährden.

Die linguistischen und sozialwissenschaftlichen Befunde werden auch durch Erhebungen der Statistik Austria gestützt, die das touristische Begehren nach soziodemographischen Strukturmerkmalen erforscht. In vierteljährlichen Befragungen wird die österreichische Reise- und Urlaubspraxis gemäß der EU-Verordnung zur Tourismusstatistik ermittelt. Die Ergebnisse sind durchaus aufschlussreich und zuweilen unerwartet.

Die entscheidende Einflussgröße ist das Bildungsniveau. Am häufigsten verreisen Personen, die eine Universität oder Fachhochschule absolviert haben, am seltensten Personen ohne Pflichtschulabschluss. Diesen Befund bestätigt die Aufschlüsselung nach der Erwerbstätigkeit: Es führen Beamte und Vertragsbedienstete, gefolgt von Studenten und Schülern, an dritter Stelle liegen Angestellte. Der zweitwichtigste Faktor ist das Alter, Jüngere verfügen über eine größere Urlaubsmobilität als Ältere. So weit, so erwartbar.

Wenig Einfluss auf die Reisepraxis haben das Geschlecht und der Familienstand, und noch nicht einmal das Einkommen ist wirklich entscheidend. Wer ein kleines Budget zur Verfügung hat, verreist eben auf niedrigerem ökonomischen Niveau und verschwendet keine Ressourcen auf unnötigen Luxus. Jedenfalls sind formal hoch Gebildete mit wenig Geld in der Freizeit mobiler als wenig Gebildete mit viel Geld.

Interessant ist, welcher soziodemographische Faktor nach der Schulbildung und dem Alter die bestimmende Variable für die Reiseintensität ist: Es ist die Wohnortgröße. Am häufigsten verreisen die Bewohner großer Städte und am seltensten die Bewohner kleiner Ortschaften. So unternahmen im Jahr 2017 (die Zahlen für 2018 sind noch nicht veröffentlicht) nahezu drei Viertel der über fünfzehnjährigen Wiener (72,2 %) eine mindestens fünftägige Urlaubsreise, aber nur etwa die Hälfte der Dorfbewohner (50,2 % aus Gemeinden bis 2000 Einwohner).

Betrachtet man die Daten nach dem Lebensunterhalt, so sind Land- und Forstwirte (Selbständige und Mitthelfende) am wenigsten mobil in ihrer Freizeit. Nicht einmal ein Drittel (30,6 %) der über Fünfzehnjährigen, die in der Land- und Forstwirtschaft tätig sind, absolvierten 2017 eine Urlaubsreise mit mindestens vier Übernachtungen, hingegen taten dies mehr als drei Viertel der Beamten und Vertragsbediensteten (76,6%) und der Studenten und Schüler (75,1 %).

Wenn man nicht nur die Haupturlaubsreise berücksichtigt, sondern kürzere Fahrten von ein bis drei Tagen Dauer mit einbezieht, dann steigen die Zahlen auch für die Bevölkerungen kleiner Siedlungen und für Land- und Forstwirte.

Was darf man daraus schließen?

Es entsteht in urbanen Wohnräumen ein größeres Bedürfnis nach Erholung und Abwechslung als in ländlichen Regionen, deren Bewohner, auch wenn nur noch Wenige der Scholle verhaftet sind, doch eher eingebettet sind in familiäre und dörfliche Strukturen. Zwar mögen manche unter Druck und Enge leiden, aber solche Lebensumstände produzieren offensichtlich weniger Entfremdung und soziale Kälte als städtische, in denen man die Nachbarn nicht kennt, die Familie weit weg ist und die Wege zwischen Arbeits- und Wohnort schon viel von der Freizeit absorbieren, die Dorfbewohner gemäß ihren Bedürfnissen gestalten können.

Jedenfalls wird ein Teil des touristischen Begehrens in Hotel-Resorts mit üppigen Gartenanlagen und üppigen Büffets kanalisiert. Doch nicht alle Urlaubsbedürftigen und Reiselustigen wollen sich mit solch künstlichen Konsumwelten begnügen. Es gibt eine touristische Nachfrage, die das Konstruierte im massentouristischen Sehnsuchtsort durchschaut und die das Echte, Authentische, Ursprüngliche, Unverfälschte im individuellen Erleben zu finden hofft, möglichst weit entfernt von den klimatisierten Märchenwelten, hoch im Himalaya oder tief im Sahel, am Amazonas oder auf Inseln des Südpazifik.

Auch wenn dieses Verlangen nur ein Nischensegment ausfüllt, wurde es längst ebenfalls von Reisemärkten gekapert. Deswegen führen organisierte Touren für diese Zielgruppen in periphere Regionen des globalen Süden, in die kargen Lebensräume von Indigenen, von Viehzüchternomaden und Jäger- und Sammlergesellschaften. Und so schreitet auch die touristische Erschließung von Wüsten und Regenwäldern, von abgelegenen Hochgebirgs- und Inselregionen voran, in denen Minderheiten, politisch und ökonomisch marginalisiert, um Land- und Ressourcenrechte kämpfen.

Denn unabhängig davon, ob die alljährlich Urlaubsreifen ihre Träume im Luxus einer Hotelanlage oder in der Abgeschiedenheit einer Rückzugsregion zu verwirklichen suchen, hinterlassen sie ihre Spuren. Die imaginierten Paradiesvorstellungen halten nur so lange stand als Touristen aus ihren Überlegungen die sozio-ökonomischen Realitäten der Destinationen ausklammern, die mitunter einige Unbequemlichkeiten für die Einheimischen und für die in den Erlebnisindustrien Beschäftigten bergen.

Was bedeutet die jährliche Paradiessuche für die Zielorte? Ein Business, das Einheimische am Kuchen nicht beteiligt, stattdessen aber ihre Lebensräume bedroht, hat vielerorts zu Konflikten geführt. Es ist eine verfehlte Tourismuspolitik, wenn Wasser für Beherbergungsbetriebe abgezogen wird, das in der Landwirtschaft benötigt würde, wenn Fischgründe wegen Ausflugsbooten gefährdet sind, wenn Immobilienpreise so hoch steigen, dass Einheimische sich die Mieten nicht mehr leisten können, wenn Ärzte in die Tourismusregionen absiedeln, weil dort bessere Verdienstmöglichkeiten sind, wenn mit Steuergeldern Infrastruktur geschaffen wird, die nur Touristen brauchen, etwa Straßen in Nationalparks, Stromversorgung und Kanalisation für Hotel-Resorts, … Die Liste von ausbeuterischen Projekten mit unerwünschten Wirkungen ist lang, dieselben Fehler werden immer wieder gemacht, wenn neue Destinationen erschlossen werden. In der Regel führen erst Phänomene des Overtourism zu einer Umkehr und zur Berücksichtigung der längst bekannten Kriterien einer nachhaltigen, sozial- und umweltverträglichen Entwicklung. Im Rahmen einer verantwortungsvollen Tourismuspolitik müssen diese aber auch umgesetzt werden, es muss ein Interessensausgleich angestrebt werden zwischen Reisenden und Bereisten, zwischen der Gewinnsucht von Investoren und Unternehmern und den Wünschen und Bedürfnissen der Wohnbevölkerung.