Der Kommentar ist am 4. 3. 2016 in Die Presse erschienen.
Seit Europa konfrontiert ist mit einer Anzahl von Einwanderern, sind in der Öffentlichkeit neue Diskussionsfelder aufgetaucht, die es bisher nicht gegeben hat, einige der Ideen wären noch vor einem Jahr undenkbar und unsagbar gewesen.
Es wird ernsthaft diskutiert, ob Schießbefehle auf Flüchtende eine Option sind, ohne dass ein kollektiver Aufschrei erfolgt von Seiten von NGOs, Linken, Grünen, Parteien, Kirchen, Gutmenschen. Allenfalls macht man sich im Netz darüber lustig.
Europol hat festgestellt, dass tausende Minderjährige abgängig sind, dass sie von Versklavung bedroht sind, dass sie vermutlich als unbezahlte Arbeitskräfte eingesetzt und für rechtswidrige sexuelle Dienstleistungen missbraucht werden. All das geschieht mitten in Europa. Der Aufschrei unterbleibt ebenfalls.
Das Ritual der Mülltrennung
Ein verbaler Wandel ist auch festzustellen, neue Worte, genauer: Euphemismen werden erfunden und eingeführt, Zäune heißen Türln mit Seitenteilen, Grenzkontrollen nennt man Grenzmanagement, Obergrenzen heißen Richtwerte. Ganz nebenbei wird der großartigen Idee von Europa das Grab geschaufelt. Der Aufschrei bleibt aus.
Wir leben in Zeiten, in denen die fehlerfreie Beherrschung des Rituals der Mülltrennung zum allgemein anerkannten und nicht hinterfragten Kriterium dafür wird, ob jemand dazugehört – die Sortierung von Abfall als Initiationsritual in die westlichen Staaten. Ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft ist man aber noch lange nicht, wenn man die willkürlich vorgegebenen Regeln anwendet, die ja auch lokal unterschiedlich sind und morgen aus nicht nachvollziehbaren Gründen, von oben verordnet, geändert werden können. Es stinkt in Europa.
Ein weiteres merkwürdiges soziales Phänomen: Männer mutieren scharenweise zu bekennenden Feministen, und zwar je konservativer und rechtslastiger umso lautstarker. Auf den ersten Blick wären das ja begrüßenswerte Entwicklungen, wenn man nicht auf den zweiten Blick durchschauen müsste, dass es ihnen weniger darum geht, Frauenrechte zu stärken, als das eigene Besitztum vor fremder Vereinnahmung zu schützen.
Grenzen dicht, Scheuklappen vor
Damit eng zusammenhängend wird vielerorts ein neuer Nationalismus gerade schick, wie es ihn in Ungarn schon länger gibt, den wir jedoch in Österreich in den letzten Jahrzehnten für überwunden glaubten. In Deutschland brennen fast schon täglich Unterkünfte von Asylwerbern. Die besorgten Bürger meinen: „Das wird man doch noch sagen dürfen“, wenn Nordafrikaner als Kollektiv sexueller Übergriffe bezichtigt werden, wenn Kriegsflüchtigen ihre Smartphones geneidet werden, wenn Syrer, Iraker und Afghanistani pauschal als rückständige, ungebildete Frauenunterdrücker dargestellt werden. In Medien und sozialen Netzwerken outen sich stramme Liberale als Nationalliberale und ehemals zuverlässig Linke als Linksnationale: Grenzen dicht, Scheuklappen vor, unsere Werte mit der Waffe verteidigen.
Gegensätze und Abgründe tun sich auf, der Stammtisch ist salonfähig geworden. Asylrecht, Europäische Menschenrechtskonvention, Genfer Flüchtlingskonvention – Übereinkünfte, die nur noch auf dem Papier existieren, zu inhaltslosen Worthülsen verkommen; sie füllen gerade noch politische Sonntagsreden und schöngeistige Feuilletons. Die paar reichsten Länder der Welt schämen sich nicht mehr, Menschen, die um ihr nacktes Überleben kämpfen, die Aufnahme zu verweigern, Angela Merkel wurde allein gelassen.