Wie viel Islam steckt in Europa?

Der Essay erschien unter anderem Titel in der Taz, 26. 3. 2018, S. 12

Der Okzident hat seine so genannten Werte und Leistungen keineswegs alleine und in genialer Isolation erarbeitet, sondern hat den Orient geistig und kulturell ausgebeutet und aufgesogen, was brauchbar schien.

Ohne die intellektuellen Leistungen von Muslimen würden wir weder bequem wohnen, noch bequem liegen, noch könnten wir effizient rechnen. Im Laufe von 13 Jahrhunderten hinterließen Araber, Perser und Türken in Europa nicht nur ihr Genmaterial, sondern auch ihr Gedankengut. Ein Deutschland ohne Islam ist undenkbar.

Schon Anfang des 8. Jahrhunderts fassten Muslime in Europa Fuß, Teile Spaniens regierten sie 700 Jahre lang. Portugal, Sardinien, Sizilien und Süditalien verweisen auf kürzere islamische Epochen und Intermezzi. An den Umschlagplätzen für Wissen – in Bagdad, das im 8. Jahrhundert zur damaligen Welthauptstadt aufstieg, aber auch in Cordoba, Sevilla und Toledo – wurden die Werke der griechischen Philosophen, Platon und insbesondere Aristoteles, gelesen, rezipiert und übersetzt. Während das westliche Mittelalter heute noch manchmal mit der klischeehaften Beifügung finster versehen wird, ist im arabisch-persischen Kontext gerne vom goldenen Mittelalter die Rede. Islamische Zivilisation rettete das Erbe der Antike durch mehrere Jahrhunderte, in denen es im christlichen Teil Europas dem Vergessen anheimfiel.

Unbestritten ist auch der Beitrag islamischer Forscher, etwa von Ibn Sina (lat. Avicenna), dessen Werk, ins Lateinische übersetzt (Canon medicinae), jahrhundertelang den medizinischen Standard in Europa bildete. Und es war ein Muslim, durch dessen Vermittlung Aristoteles schließlich wieder zu Anerkennung gelangte: Ibn Ruschd (lat. Averroes). Er entwirrte die Widersprüche zwischen Glauben und logischem Denken. Im Hochmittelalter schuf er die Basis für die Unterscheidung zwischen Glaube und Vernunft, zwischen Religion und Wissenschaft. Als Thomas von Aquin um 1224 geboren wurde, der diese Leistung für das Christentum erbrachte, war Ibn Ruschd schon ein Vierteljahrhundert tot. Er gehört damit zu jenen Denkern des Hochmittelalters, die die geistigen Voraussetzungen für forschendes Erkennen schufen und damit das ideengeschichtliche Fundament Europas.

Im selben Jahrhundert, als im Westen im Rahmen der Reconquista Muslime dauerhaft aus Spanien vertrieben wurden (1492 Fall von Granada), konnten sie sich im Osten dauerhaft festsetzen: Unter osmanischer Herrschaft wurde Konstantinopel erobert (1453) und damit das christlich-byzantinische Reich. So stieg das Imperium zur Weltmacht auf, das sich in Ost- und Südeuropa schon lange behauptete. Seit dem 14. Jahrhundert waren Muslime auf der Balkan-Halbinsel beheimatet, sie bildete das Kerngebiet des Osmanischen Reiches.

Die Nähe zwischen Europa, Nordafrika und Westasien belegen auch allerhand Ausdrücke im Deutschen, Worte mit arabischem Migrationshintergrund, die – nebenbei bemerkt – häufig (aber nicht immer) etwas mit Lebensqualität und Lebenskunst zu tun haben: Alkohol, Artischocke, Haschisch, Karaffe, Magazin, Mokka, Rabatt, Schachmatt, Safran, Sorbet, Tarif, Tamarinde, Zucker. Die Liste lässt sich in diverse Wissenschaften hinein ziemlich verlängern, ebenso in andere europäische Sprachen.

Allerhand Köstlichkeiten sind aus dem Osten eingewandert, Kaffee und Hörnchen sind nur die bekanntesten, und allerhand Bequemlichkeiten in den Wohnungseinrichtungen, Liegemöbel sowieso – Diwan, Sofa, Matratze, Ottomane, Baldachin sind Worte persischen, arabischen oder türkischen Ursprungs.

Im Frühmittelalter brachten Muslime via Nordafrika die textile Technik des Knüpfens nach Spanien, in Cordoba entfaltete sich das Gewerbe. Und erst die geknüpften Fußbodenbedeckungen und Wandbehänge, die die Kreuzfahrer einführten, machten die zugigen Burgen im Hochmittelalter wohnlich. Durch die gleichen Kanäle – über die Kreuzfahrer, über Sizilien und besonders über Spanien – wurden arabisch-islamische Musikkultur und Musiktheorie samt Instrumenten importiert und schufen neue Klangereignisse. Das Wort Laute stammt vom arabischen al-‘ud.

Und die Ziffern, mit denen wir rechnen, sind arabisch (arab. as-Sifr = Null). Araber brachten das Dezimalsystem samt den indischen Ziffern vermutlich im 10. Jahrhundert nach Spanien. Dort erhielten sie allmählich die heute gebräuchliche Form, doch nur langsam verdrängten sie die bis dahin verwendete römische Zahlschrift. Die katholische Kirche stand ihnen zunächst ablehnend gegenüber, aber Kaufleute stellten fest, dass sich mit ihnen schneller rechnen lässt, und das Rechenbuch von Adam Ries (fälschlich Riese), das 1550 erschien, enthält die uns bekannten typographischen Zeichen.

Jedenfalls liegt im Abendland ein Gutteil Morgenland als verheimlichtes Substrat verborgen. Durch die Jahrhunderte fand ein Technologietransfer vom Osten in den Westen statt, Erfindungen in der Physik und der Chemie, Papier, Kompass, Lupe und andere Behelfe gegen menschliche Unzulänglichkeiten sind arabisch-islamischen Ursprungs oder gelangten von China und Indien durch arabisch-islamische Vermittlung nach Europa, bedauerlicherweise auch das Schießpulver.

Das alles ist nichts Neues. “Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen”, schrieb Goethe in West-östlicher Divan, erschienen 1819. Niemand ist gegen Orient in der Küche, Orient in der Musik, und Bauchtanz bereichert nicht nur die Schlafzimmer, sondern stärkt auch die Rückenmuskeln. Es mag im Einzelnen unter Historikern umstritten sein, wie ansehnlich die arabisch-persisch-türkisch-islamische Zufuhr von Geistes- und Sachleistungen zu den westlichen Zivilisationen tatsächlich ist. Aber gewiss ist, dass diese Importe gern unter den Tisch gekehrt werden und auch in den Schulbüchern nicht den Stellenwert einnehmen, der ihnen zukommt. Gewiss ist auch, dass Europa ohne Islam und Muslime und ohne den Wissenstransfer aus islamischen Gebieten nicht wäre, was es heute ist.